Berliner Nomanden: Greift nach den Sternen

Unsicherheit umgibt viele Menschen in der Stadt. Diese Unsicherheit drückt sich in Zweifeln an uns selbst aus – an unserer Karriere, der Wohnungssituation, Freundschaften und Liebesbeziehungen. Ich selbst habe mich so oft gefragt, woher all diese Unsicherheiten in dieser verrückten Stadt stammen.
Unsicherheit beherrscht unseren Berliner Alltag. Dabei bietet Berlin doch so vieles. Die wachsende Startup-Szene gibt eigentlich jedem die Chance seine noch so verrückte Idee einfach mal in einem Unternehmen umzusetzen. Wer nicht gleich ein eigenes Startup gründen möchte, kann sich in der Stadt beruflich austesten und in diverse Unternehmen hinein spüren. Ob FinTech, E-Commerce, NGO oder Agentur, alles ist möglich. Stattdessen lassen wir uns oft von vielen Grundthemen verunsichern. Die geringen Löhne, eine scheinbar mangelnde Investorendichte und kurzfristige Anstellungen in Startups verleiten eher zu Zögern als zum Ausprobieren. Mietsprünge von bis zu 200 % oder gar 300 % in den letzten Jahren ebenso wie die Schwierigkeit eine neue Bleibe zu finden, die unseren Ansprüchen genügt und nicht wie eine absolute Bruchbude zum Horrorpreis anmutet, erhöhen die Unsicherheit noch mehr. Sätze wie „Ich habe 6 Monate eine neue Wohnung gesucht.“ Oder „Eigentlich kann ich mir eine eigene Wohnung nicht mehr leisten, sondern sollte eher wieder in eine WG ziehen.“ gehören heute zum Standard in den meisten Cafés von Mitte über Kreuzberg bis Neukölln. In solche Gespräche bei Espresso oder abends in einer verrauchten Bar bei Wein oder Bier mischen sich dann noch weitere Tendenzen.
Berlin ist oft nur eine Zwischenstation – auf Dauer
Eine davon ist das ewige „Ich will ja auch eigentlich gar nicht hier bleiben“. Für so viele ist Berlin nur eine Zwischenstation. So viele kommen nur für ein bis zwei Jahre, wollen sich ein wenig austoben und dann wieder weiter ziehen. Doch die Integration dieses Satzes "Ich will ja nicht hier bleiben" in unser Denken und Handeln hat weitreichende Folgen. Er beeinflusst die Art wie Freundschaften etabliert werden. Wenige Freundschaften in Berlin scheinen Potential für eine lange Zukunft zu haben, sondern basieren lediglich auf der Perzeption, dass man eben den Moment teilt. Man geht zusammen feiern, tobt sich aus und frühstückt vielleicht noch schön. Trotzdem sind die eigentlich so wertvollen Freundschaftsmomente implizit stets von einer gewissen Distanz geprägt. Denn schliesslich zieht man ja irgendwann weiter und muss sich darum auch nicht unbedingt tiefer auf das Gegenüber einlassen. Dabei merken viele gar nicht, dass sie ihre 'Feierfreunde' schon seit Jahren kennen bzw. diesen Satz schon seit drei, vier, fünf Jahren nutzen. Er hat sich in ihr Verhalten eingeschlichen und ist eine Ausrede für die scheinbare Ungebundenheit geworden. Unbewusst hat sich dieses Muster auch in Liebesbeziehungen eingeschlichen. Der One-Night-Stand nach der Clubnacht ist zur Langfrist-Beziehung des Berliner Nomadens geworden. Denn wer nur nach Berlin kommt, um sich auszutoben, braucht sich ja auch nicht auf eine richtige Beziehung einzulassen. Das macht auch alles viel einfacher: Man muss dem anderen nur für eine Nacht in die Augen schauen und sich weder mit dessen Problemen noch mit seinen eigenen konfrontieren.
Wer hinterfragt schon das Leben eines Nomaden auf Zwischenhalt?
Woher kommt die Kultur der Unsicherheit?
Die Unsicherheit schleicht sich so in unzählige Bereiche unseres Lebens ein. Dabei scheint sich keiner die Frage zu stellen: Woher kommt diese Kultur der Unsicherheit eigentlich? Wenn wir ehrlich sind und uns tief in die Augen schauen, wissen wir eines doch: Diese Unsicherheit schafft einen Mangel an Vertrauen! Uns fehlt das Vertrauen uns geerdet und verankert zu fühlen durch eine schöne Wohnung, zuverlässige Freundschaften und ein Fallenlassen in eine Beziehung. Der ganze Blödsinn des Non-Commitments ist doch nur eine Ausrede, die uns in einen Teufelskreis aus Unsicherheiten reißt. Betrachtet man das Ganze einmal rein anatomisch: Der Mensch steht mit beiden Beinen auf der Erde, die ihm Kraft gibt. Nimmt man Berlin als Stadt symbolisch für die Erde, haben wir durch die Kultur des Nomadentums eigentlich eine Mangellandschaft für Verwurzelung geschaffen. Die Unsicherheit, die durch steigende Mietpreise und mögliche Jobverluste droht, tut ihr übriges. Weiter hoch gewandert am Körper ist Sex nur zu einer kurzfristigen Ersatzbefriedigung und zu einem Symbol des ewigen Weiterziehens geworden. Dabei verwechseln viele die kurzfristige Befriedigung mit einer ehrlichen Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit. Infolgedessen leidet auch unser Herz, das sich eigentlich gar nicht mehr richtig auf andere einlassen kann – weder freundschaftlich noch liebend. Dabei haben wahrscheinlich die wenigsten Menschen ein Herz, das sich nicht nach Liebe, Verständnis und Fallenlassen sehnt. Leider können wir diesen Wünschen gar nicht mehr richtig Ausdruck verleihen, weil unser Mund ständig betont, „dass wir aktuell keine Beziehung wollen“, und „nicht auf ewig in Berlin bleiben“, sondern uns nur „gerade ein bisschen ausleben“. Als Nahrung reicht da schon mal ganz viel Alkohol, wenig Schlaf und der leichte Wirbel der Erschöpfung im Körper.
Können wir gemeinsam ein Fundament für große Träume schaffen?
Doch ich bin mir ganz sicher, nur wenn wir es schaffen mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen, können unsere Träume, Hoffnungen und Wünsche wirklich in den Himmel wachsen. Wie soll es unser Kopf schaffen, Ideen und Träume auszudrücken und umzusetzen, wenn der Körper und der Geist keine Kraft aus einem stabilen Fundament ziehen können? Ich habe dieses Bild im Kopf, in dem jeder Einzelne von uns Berliner Nomaden wie ein Baum aus der Erde wächst. Durch dieses sog. ‚Grounding’ verwurzeln wir, schaffen Stabilität und schöpfen Energie. Stabilität gibt auch Kraft, die wir an tiefe Freundschaften, ehrliche Partnerschaften und unser Umfeld weiter geben können. Ein Baum, der wächst steht für so Vieles: Schatten, Geborgenheit, Halt und frische Luft. Die Kraft die wir als Berliner Nomaden-Bäume schaffen, kann uns helfen, ehrlich zu uns und anderen zu sein. Vielleicht öffnet sie sogar unser Herz und unseren Geist, so dass wir unsere eigenen Träume noch mehr spüren. Als wachsende Bäume greifen wir immer mehr nach den Sternen. Diese Kraft gibt jedem einzelnen von uns die Chance, unsere Ideen Wirklichkeit werden zu lassen und gleichzeitig als Wald aus verwurzelten Individuen Berlin stabiler, kontinuierlicher und ehrlicher zu machen.
Lasst uns gemeinsam nach den Sternen greifen
Berlin ist ein Magnet für die ganze Welt geworden und es ist unsere Entscheidung, ob wir uns weiter verunsichern lassen oder stattdessen die Unsicherheit verstehen. Wer weiß, vielleicht nimmt ja auch der eine oder andere Besucher unsere Botschaft mit in die weite Welt.
Gemeinsam können wir alle mit beiden Beinen auf der Erde stehen, nach den Sternen greifen und vielleicht sogar ein inspirierender Wald in der strahlenden Berliner Sommersonne werden.